Wien (OTS) — Die Türkische Kulturgemeinde in Österreich (TKG) begrüßt die von der Staatsanwaltschaft eingereichte Nichtigkeitsbeschwerde. Sie ist nicht nur ein juristischer Schritt, sondern ein Zeichen dafür, dass sich die Gesellschaft noch nicht vollständig von der Würde und Seele eines unmündigen Kindes abgewendet hat.
Die Würde des Menschen ist unantastbar – auch die eines Kindes
Die Würde des Menschen – die Würde eines zwölfjährigen Mädchens – darf nicht relativiert werden. Auch wenn die österreichische Bundesverfassung das Prinzip der Menschenwürde nicht explizit in einem Hauptartikel verankert, so verpflichtet sie doch alle staatliche Gewalt zur Achtung und zum Schutz der persönlichen Freiheit. Der Grundgedanke bleibt: Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Ein Prüfstein für den Rechtsstaat
Wir fordern eine sorgfältige und gewissenhafte Überprüfung des Urteils durch den Obersten Gerichtshof. Denn dieser Fall ist ein Prüfstein für die moralische und gesetzliche Substanz unserer Gesellschaft. Wenn nicht einmal das schwächste Glied geschützt wird, wenn ein zwölfjähriges Kind nicht mit Empathie, sondern mit Verdacht behandelt wird, wenn Täter zu Opfern und Opfer zu Täterinnen gemacht werden, dann ist nicht nur das Recht verletzt – dann ist das Vertrauen in das Zusammenleben und in den Rechtsstaat erschüttert.
Die Täter-Opfer-Umkehr ist eine gesellschaftliche Schande
Die Täter-Opfer-Umkehr, bei der ein unmündiges Mädchen als „sexwillige Täterin“ dargestellt wird, ist eine Schande für unsere Gesellschaft. Sie ist ein Bruch mit dem ethischen Fundament, auf dem jede demokratische Ordnung ruhen muss. Sie ist eine Verhöhnung der Idee, dass Menschenwürde unantastbar ist.
Herkunft ist nicht das Problem – das Versagen der Empathie schon
Die Täter stammen mehrheitlich aus Syrien, aber auch aus Serbien, der Türkei, Italien und Bulgarien. Doch die Herkunft steht hier nicht im Zentrum der Empörung. Es ist die kollektive Unfähigkeit, ein Kind als Kind zu sehen. Es ist die Umkehrung der Verantwortung, durch die das Mädchen und ihre Mutter zu Täterinnen bzw.Schuldträgerinnen gemacht werden.
Die Verhöhnung als doppeltes Signal
Mehrere jugendliche Sexualtäter zeigen keinerlei Reue. Sie missbrauchen den Raum des Rechtsstaats und die Bühne der Gerichte als Showplattform und verhöhnen dabei öffentlich Anna und ihre Mutter.
Diese Form der Respektlosigkeit darf nicht toleriert werden. Sie sendet ein doppeltes, falsches Signal:
– an die gesamte Gesellschaft, die auf Würde und Mitgefühl angewiesen ist,
– und an Migrantinnen und Migranten, die sich um ein respektvolles Zusammenleben und eine gelungene Integration bemühen.
Ein Rechtsstaat darf nicht zur Bühne für Zynismus und Demütigung werden. Gerechtigkeit muss nicht nur gesprochen, sondern auch würdevoll vollzogen werden.
Politisches Versagen auf lokaler Ebene
Die TKG hat sich seit dem 4. März 2024 nicht geäußert, da die Verfahren noch andauerten. Doch jetzt ist Schweigen keine Option mehr. Die Wiener Türkinnen und Türken, insbesondere jene im Bezirk Favoriten, empfinden diese Entwicklung als zutiefst verstörend. Favoriten ist mit über 250.000 Einwohnerinnen und Einwohnern der größte Bezirk Österreichs. Die Menschen dort haben Bezirksvorsteher und Bezirksräte gewählt, damit ihre Stimme gehört und ihre Sorgen ernst genommen werden. Doch viele berichten, dass ihre Sicherheitsbedenken ignoriert wurden.
Kritik wird nicht gehört – sie wird bekämpft
Auch politische Akteure mit migrantischem Hintergrund, die sich öffentlichkeitswirksam präsentieren, haben sich nicht schützend vor jene gestellt, die Missstände benennen. Vielmehr wurden kritische Stimmen marginalisiert, diffamiert und systematisch ausgegrenzt. Die Probleme wurden nicht gelöst – sie wurden verdrängt. Das Vertrauen in die politische Vertretung ist tief erschüttert.
Favoriten: Ein Bezirk im Ausnahmezustand
In Favoriten gibt es ein ernstzunehmendes Sicherheitsproblem. Viele einheimische Migrantinnen und Migranten, die seit über sechzig Jahren dort leben – insbesondere aus der Türkei – fühlen sich nicht mehr sicher. Sie erleben seelische und körperliche Gewalt und viele leben mit Stress und Angst. Doch nicht deshalb empfinden sie Mitgefühl für das zwölfjährige Mädchen und ihre Mutter. Sie empfinden es, weil sie wissen: Das hätte ihre Tochter sein können.
Viele von ihnen haben Töchter im selben Alter. Sie sehen nicht nur ein Urteil – sie sehen eine Bedrohung für das, was sie als gerecht empfinden. Was sie für ihre Töchter, Schwestern und Enkelinnen fürchten, empfinden sie als zutiefst beschämend und traurig.
Ein Einspruch, der bleibt
Am 4. März 2024, 18 Monate nach der Tat, hat die TKG eine APA-OTS unter dem Titel „Einspruch für die Würde der Schwächsten der Gesellschaft“ veröffentlicht. Heute erneuern wir diesen Einspruch.
Kinder haben Rechte – und Anspruch auf Schutz
So wie das Prinzip der Menschenwürde die Grundlage unserer Verfassungsordnung ist, so ist es auch die Grundlage unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens. Artikel 1 der Charta der Grundrechte besagt: „Auch Kinder haben Rechte und genießen den besonderen Schutz des Staates.“ Dieser Schutz darf nicht zur Floskel verkommen
Türkische Kulturgemeinde in Österreich
Wien, 30.09.2025