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TKG bringt Beschwerde gegen das Integrationsbarometer 2025 und dessen verantwortliche Durchführung ein

Integrationsbarometer 2025: TKG bringt Beschwerde wegen diskriminierender religiöser Kategorisierung und politischer Instrumentalisierung ein

Wenn staatliche Stellen und Steuergelder – getragen von allen Bürgerinnen und Bürgern Österreichs – für politisch anschlussfähige, methodisch bedenkliche Meinungsforschung eingesetzt werden, trägt die Regierung Verantwortung: für Konzeption, Wirkung und Weiterverwendung. Werden in solchen Erhebungen religiöse Minderheiten durch kollektive, suggestive Fragelogiken problematisiert und anschließend parteipolitisch weiterverwertet, darf eine wehrhafte Demokratie nicht schweigen. Es ist ihre Pflicht, rechtsstaatliche und gesellschaftliche Grundprinzipien zu schützen.

Was ist geschehen?

Im Integrationsbarometer 2025 wird die Religionsgemeinschaft der Musliminnen und Muslime selektiv herausgelöst, normativ bewertet und über Jahre hinweg als gesonderte Problemkategorie geführt, während andere Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften nicht einmal ansatzweise vergleichbar erhoben werden. Religion wird dabei nicht analytisch kontextualisiert, sondern funktionalisiert: als kultureller Marker, als Projektionsfläche gesellschaftlicher Ängste, als implizites Sicherheitsproblem.

In Österreich leben heute rund 800.000 Menschen muslimischen Glaubens oder aus muslimisch geprägten Familien. Viele von ihnen sind hier geboren, österreichische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in zweiter, dritter oder vierter Generation. Sie arbeiten in Verwaltung, Justiz, Gesundheitswesen, Bildung, Wirtschaft, Wissenschaft, Medien und Zivilgesellschaft. Sie sind ein untrennbarer Bestandteil dieser Republik.

Und dennoch wird ihre Religion im Rahmen dieser staatlich finanzierten Erhebung so behandelt, als wäre sie eine unveränderliche, quasi naturgegebene Eigenschaft – vergleichbar mit einer biologischen Kategorie. Religion erscheint nicht als vielfältige, individuelle Überzeugung oder Praxis, sondern als kollektiver Marker, der Menschen dauerhaft definiert – unabhängig von individueller Lebensführung, rechtlicher Stellung oder sozialer Realität.

Genau hierin liegt der Kern des kulturalisierten Rassismus („Rassismus ohne Rasse“, „Neorassismus“): Menschen werden nicht mehr offen biologistisch diskriminiert, sondern über zugeschriebene kulturelle oder religiöse Eigenschaften, die als statisch, unveränderlich und problemhaft konstruiert werden. Diese Logik ist besonders perfide, weil sie sich wissenschaftlich tarnt und gesellschaftlich normalisiert.

Der Finanzminister der Republik Österreich Markus Marterbauer

Frühzeitiger Einspruch der TKG

Die TKG hat bereits am 18.12.2025 (Tag der Veröffentlichung) und erneut am 24.12.2025 Einspruch erhoben, um Öffentlichkeit und Entscheidungsträger auf die demokratiepolitische Gefahr dieser Form staatlicher Wissensproduktion aufmerksam zu machen:

Zunehmende Verwunderung und Sorge

Mit wachsender Verwunderung und Sorge beobachtet die Türkische Kulturgemeinde in Österreich (TKG) die aktuellen Versuche, die offenkundigen Problemlagen des staatlich finanzierten Integrationsbarometers 2025 politisch zu relativieren, kommunikativ zu entschärfen oder zur Tagesordnung überzugehen. Dies, obwohl zentrale Elemente dieser Erhebung klar jenen Mustern entsprechen, die die internationale Forschung seit Jahren als kulturalisierten bzw. neorassistischen Diskurs beschreibt: scheinbar sachlich, vermeintlich wissenschaftlich – und genau dadurch gesellschaftlich besonders wirkmächtig.

Politische Instrumentalisierung: eine chronologische Rekonstruktion

Die politische Instrumentalisierung des Integrationsbarometers 2025 ist kein abstrakter Vorwurf. Sie lässt sich anhand öffentlich dokumentierter Schritte nachvollziehen.

1) Veröffentlichung und politische Anschlussfähigkeit
Mitte Dezember 2025 veröffentlicht der Österreichische Integrationsfonds (ÖIF) im Auftrag des Integrationsministeriums das „Integrationsbarometer 2025“. Die Studie beansprucht, Einstellungen und „Stimmungsströmungen“ abzubilden.

2) Kampagnenverwertung durch die ÖVP
Unmittelbar nach Veröffentlichung greift die ÖVP Ergebnisse auf, um ihre „Null-Toleranz“-Kommunikation voranzutreiben. In einem Social-Media-Posting wird etwa gefragt: „Wusstest du, dass zwei Drittel das Zusammenleben mit Muslimen als schwierig empfinden?“ Heute

3) Öffentliche Bestätigung durch ÖVP-Generalsekretär Nico Marchetti („Stimmungsbild“)
ÖVP-Generalsekretär Nico Marchetti bestätigt öffentlich, dass das Integrationsbarometer Grundlage dieser Kommunikation sei. Laut Medienbericht erklärte er im Ö1-Mittagsjournal, das Zitat stamme aus einer Studie, die das „Stimmungsbild der Österreicher“ erhoben habe. Heute

Diese Aussage ist zentral: Sie verschiebt das Barometer von einem angeblich analytischen Instrument zur Legitimationsquelle politischer Narrative. Eine staatlich finanzierte Erhebung wird zur autoritativen Stimme eines gesellschaftlichen „Stimmungsbildes“ erklärt – ungeachtet methodischer Verzerrungen, normativer Setzungen und der absehbaren Wirkung auf eine konkrete Minderheit.

4) Vermengung nicht vergleichbarer Phänomene und pauschale Zuschreibung
Im Zuge der politischen Weiterverwertung werden religiöse Zugehörigkeit, politische Ideologien, Migration und lokale Problemlagen vermengt. Musliminnen und Muslime werden dadurch implizit zu Trägern gesellschaftlicher Probleme gemacht, für die sie weder rechtlich noch faktisch kollektiv verantwortlich sind. Genau diese Kettenlogik macht kulturalisierten Rassismus in der Praxis wirksam: nicht als offene Parole, sondern als scheinbar „objektiv“ vermessene Problemzuschreibung.

Konkrete methodische Problempunkte

1) Unzulässige Gleichsetzung religiöser Zugehörigkeit mit Rechts-/Statusgruppen
Im Integrationsbarometer 2025 wird folgende Frage gestellt (Seite 20, Abbildung 9): „Wie würden Sie alles in allem das Zusammenleben zwischen Österreichern und Zuwanderern, Muslimen und Nicht-Muslimen, Österreichern und Flüchtlingen sowie Österreichern und ukrainischen Kriegsvertriebenen in Österreich beurteilen?“

Hier wird eine religiöse Zugehörigkeit („Muslime und Nicht-Muslime“) auf derselben normativen Bewertungsskala gemessen wie rechtlich oder statusbezogen definierte Gruppen (Zuwanderer, Flüchtlinge, Kriegsvertriebene). Religion ist jedoch kein Rechtsstatus. Diese Gleichsetzung ist methodisch nicht sachlich begründbar und wissenschaftlich nicht haltbar.

2) Dauerhafte Markierung als Problemkategorie durch Sonder-Zeitreihe
Zusätzlich wird das „Zusammenleben mit Muslim/innen“ als eigene Zeitreihe dargestellt („im Zeitverlauf“).
Für keine andere religiöse Gruppe existiert eine vergleichbare Zeitreihen-Darstellung. Musliminnen und Muslime werden dadurch dauerhaft als Problemkategorie markiert.

3) „Politischer Islam“ als unscharfer Angstbegriff ohne Definition
Im Bereich der wahrgenommenen Sorgen wird die „Verbreitung des politischen Islams“ als große Bedrohung ausgewiesen, ohne Definition oder Operationalisierung.
In Kombination mit der selektiven Darstellung des Zusammenlebens entsteht ein impliziter Zusammenhang zwischen religiöser Identität und Sicherheitsbedrohung – ein klassisches Muster kulturalisierter Stigmatisierung.

Seit über dreißig Jahren weist die TKG in Wien auf Risiken jeder Form politischer Instrumentalisierung von Religion hin – einschließlich des sogenannten „Politischen Islam“ – und zwar unabhängig von religiöser Zugehörigkeit. Eine pauschale Zuschreibung auf Basis religiöser Identität, wie sie hier methodisch vorbereitet und politisch weiterverwertet wird, ist jedoch wissenschaftlich nicht haltbar und gesellschaftlich hochproblematisch.

Fehlende Betroffenenperspektive: Wessen „Zusammenleben“ wird hier gemessen?

Ein zentraler, bislang öffentlich kaum thematisierter Mangel liegt darin, dass die Perspektive jener Menschen, über die geurteilt wird, im Instrument selbst nicht erkennbar berücksichtigt wird.

Das Barometer misst Einstellungen zum „Zusammenleben mit Muslim/innen“, ohne systematisch offenzulegen, ob und in welchem Ausmaß Musliminnen und Muslime selbst Teil der Stichprobe sind, wie ihre Antworten gewichtet wurden oder ob ihre Erfahrungen mit Diskriminierung, Ausgrenzung oder institutioneller Benachteiligung überhaupt erhoben wurden.

Damit entsteht ein einseitiges Bewertungsregime: „Zusammenleben“ wird primär als Wahrnehmung der Mehrheitsgesellschaft operationalisiert, während die Minderheit strukturell unsichtbar bleibt. Zusammenleben ist jedoch ein relationales Phänomen. Es kann nicht seriös gemessen werden, wenn nur eine Seite spricht und die andere zum Objekt der Bewertung degradiert wird.

Keine Erhebung von Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen

Besonders problematisch ist, dass das Integrationsbarometer 2025 keine systematische Erhebung von Diskriminierungs-, Rassismus- oder Ausgrenzungserfahrungen enthält – weder gegenüber Musliminnen und Muslimen noch gegenüber anderen Minderheiten.

Das ist kein methodisches Detail, sondern ein struktureller Mangel: Wenn Diskriminierung nicht erhoben wird, entsteht der Eindruck, Probleme entstünden einseitig „durch die Anderen“. Strukturelle Ursachen wie institutioneller Rassismus, mediale Stereotypisierung oder politische Instrumentalisierung bleiben ausgeblendet. Damit wird Verantwortung verschoben – weg von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, hin zu einer pauschalisierten religiösen Gruppe.

Moduseffekte und Transparenzdefizite

Laut Bericht wurde ein Mixed-Mode-Verfahren (Online- und Telefoninterviews) genutzt. Bei sensiblen Themen ist seit Jahren bekannt, dass Telefoninterviews soziale Erwünschtheitseffekte verstärken können – insbesondere bei normativ aufgeladenen Fragestellungen.

Das Integrationsbarometer legt jedoch nicht ausreichend offen, ob Moduseffekte analysiert wurden, wie stark Antworten je Modus abweichen und ob entsprechende Korrekturen vorgenommen wurden. Bei staatlich finanzierter Forschung ist das ein relevantes Transparenzdefizit.

Keine subjektive Wahrnehmung, sondern objektive Wirkung

Es handelt sich ausdrücklich nicht um eine Frage subjektiver Betroffenheit oder individueller Sensibilität. Selektive Problematisierung religiöser Gruppen in staatlicher Kommunikation hat reale soziale Folgen: Sie beeinflusst Behördenpraxis, Medienberichterstattung, gesellschaftliche Interaktionen und das Sicherheitsgefühl der Betroffenen.

Gerade weil es sich um staatlich finanzierte Wissensproduktion handelt, kommt dieser Erhebung besondere Verantwortung zu. Staatliche Studien besitzen Autorität, normierende Wirkung und politische Anschlussfähigkeit. Wenn sie Minderheiten selektiv markieren, entsteht kein neutraler Diskurs, sondern eine institutionell begünstigte Verschiebung gesellschaftlicher Grenzen.

Das Integrationsbarometer 2025 ist daher nicht bloß eine Studie, sondern Teil staatlicher Kommunikation, deren Ergebnisse öffentlich verbreitet, medial rezipiert und politisch weiterverwertet werden. Diese Wirkungsebene wurde bei Konzeption und Darstellung offenkundig nicht ausreichend berücksichtigt.

Gerade diese objektive Wirkung macht staatlich finanzierte Erhebungen zu einem machtvollen Instrument gesellschaftlicher Grenzziehung

Staatliche Verantwortung und rechtlicher Rahmen

Religiöse Diskriminierung, Herabwürdigung und pauschale Zuschreibung sind in Österreich ausdrücklich verboten. Maßgeblich sind unter anderem:
– Art. 7 B-VG (Gleichheitssatz)
– Art. 14 StGG (Glaubens- und Gewissensfreiheit)
– Gleichbehandlungsgesetz (Religion/Weltanschauung)
– § 283 StGB (Verhetzung)
Auf europäischer Ebene zusätzlich:
– Art. 10 und Art. 21 der EU-Grundrechtecharta

Wissenschaftliche Unabhängigkeit und strukturelles Vertrauensproblem

Die TKG hält es für besonders problematisch, dass staatliche Meinungsforschung in politisch sensiblen Bereichen wiederholt von denselben Akteuren durchgeführt wird und gleichzeitig politische Anschlussfähigkeit erzeugt. Wissenschaftliche Unabhängigkeit bedeutet nicht nur formale Distanz, sondern faktische Unabhängigkeit von parteipolitischen Erwartungshaltungen.

Wo der Eindruck entsteht, dass politische Fragestellungen parteipolitisch verwertbar formuliert, mit öffentlichen Mitteln beauftragt und anschließend als „wissenschaftliche Erkenntnisse“ kommuniziert werden, entsteht ein strukturelles Vertrauensproblem. Staatlich finanzierte Meinungsforschung darf weder den Anschein von Auftragslogiken noch den Eindruck problematischer Näheverhältnisse zwischen Politik, Forschung und medialer Verwertung erwecken.

Konsequenzen: Formelle Beschwerden und Eingaben

Vor diesem Hintergrund bringt die Türkische Kulturgemeinde in Österreich formelle Beschwerden und Eingaben ein, unter anderem bei:
– der Gleichbehandlungskommission beim Bundeskanzleramt
– ESOMAR – World Association for Social, Opinion and Market Research
– der EU-Agentur für Grundrechte (FRA)
– dem Europäischen Bürgerbeauftragten
– den berufsständischen Vertretungen der Markt- und Meinungsforschung in Österreich (VMÖ, VdMI)

Diese Schritte erfolgen ruhig, sachlich und rechtsstaatlich. Sie dienen nicht der Polarisierung, sondern dem Schutz der Demokratie und der Glaubwürdigkeit wissenschaftlicher Forschung.

Zentrale Forderung der TKG Think Tank

Die TKG fordert, dass staatliche Erhebungen zum gesellschaftlichen Zusammenleben ausschließlich von nachweislich unabhängigen, wissenschaftlich anerkannten Instituten durchgeführt werden; dass religiöse Zugehörigkeit nicht isoliert und selektiv als Bewertungsachse verwendet wird; und dass für staatlich finanzierte Sozialforschung verbindliche Transparenz-, Gleichbehandlungs- und Antidiskriminierungsstandards gelten – einschließlich vollständiger Transparenz der Fragebögen, Kategorienbegründungen und politischer Anschlussrisiken.

In einer freiheitlich‑pluralistischen und säkularen Demokratie bemisst sich gesellschaftlicher Zusammenhalt nicht an der Markierung von Minderheiten, sondern an der Stärke und Qualität ihrer Institutionen. Hier wird klar zwischen relevanten Sachverhalten unterschieden – ohne alles pauschal miteinander zu vermischen.

Türkische Kulturgemeinde in Österreich (TKG Think Tank)
Wien, 29.12.2025

 

 

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