AusgewähltGeschichteKulturÖsterreichTürkei

Warum sollte man in Wien ein Denkmal für den Wiener Gelehrten Prof. Dr. Andreas Tietze errichten?

Am 7. Juli 2025 erschien auf der Prominenten-Seite der seriösen und investigativen türkischen Tageszeitung Cumhuriyet (Die Republik) der Artikel „Andreas Tietze, Gelehrter aus Wien: Ein Leben für die türkische Sprache“. Geschrieben wurde er von Birol Kılıç, dem Obmann der Türkischen Kulturgemeinde in Österreich (TKG), aus Wien.

Cumhuriyet,  von Birol Kilic, Wien, 07.09.2025

Ein Wiener Gelehrter – ein Leben für die türkische Sprache

Die Sprache eines Landes ist weit mehr als ein bloßes Kommunikationsmittel.  Sie ist Trägerin der kollektiven Seele, nährt Zusammengehörigkeit und Solidarität und bildet die tiefste Schicht des gemeinsamen Daseins.   Gerade für junge Republiken, die aus den Überresten von Vielvölkerreichen und Imperien hervorgegangen sind—wie die Republik Türkei und die Republik Österreich—ist der achtsame Umgang mit der Landessprache heute von existenzieller Bedeutung.   Denn Sprache ist nicht nur Ausdruck, sondern Haltung.   Nicht nur Werkzeug, sondern Heimat. Wir wissen das in Österreich zu schätzen. 

Andreas Tietze: Ein Leben für Türkisch

Ein Beispiel für unermüdliche Hingabe ist der Turkologe Prof. Dr. Andreas Tietze (1914–2003). Als Wiener Gelehrter widmete er siebzig Jahre seines Lebens der Erforschung und Bewahrung der türkischen Sprache. 1938 floh er vor dem Hitler-Faschismus aus Wien in die Türkei, fand an der Universität Istanbul eine neue akademische Heimat und erkannte bald, dass Türkisch kein Abstellgleis westlicher Orientalistik ist. Es sind die Dialekte der einfachen Menschen, das gesprochene Wort auf dem Land, die tiefe Philosophie der Sprache, Redewendungen und Sprachvarianten, die verschiedenen Ausdrucksweisen—sie bilden das lebendige Herz einer Sprache.

TETTL – Ein Epos in zehn Bänden

Sein Hauptwerk, an dem er 70 Jahre gearbeitet hat, das „Historisch-etymologische Wörterbuch des Türkischen in der Türkei“ (TETTL), erhebt sich weit über den Status eines Lexikons hinaus. Es ist ein zehnbändiges Epos, das die Entwicklung der türkischen Sprache von den Anfängen im 14. Jahrhundert bis zum Ende des 20. Jahrhunderts nachzeichnet. Von Oghusisch über Altanatolisch und Rumelitürkisch bis zum modernen Standardtürkisch – ein Vermächtnis aus allen Regionen Anatoliens.

Historisch-etymologische Wörterbuch des Türkischen in der Türkei“ (TETTL)
Familientradition und Wiener Wurzeln

Tietze war nicht nur ein Gelehrter, er war zugleich Sohn zweier großer Persönlichkeiten der Wiener Kunst- und Wissenschaftswelt. Sein Vater, Hans Tietze, zählte zu den führenden Kunsthistorikern Österreichs. Als Professor an der Universität Wien und hoher Beamter im Bildungsministerium prägte er die Museen und Denkmäler des Landes; eine Wiener Straße trägt bis heute seinen Namen: die Tietzestrasse. Seine Mutter, Erica Conrat, forschte mit besonderer Leidenschaft zur Kunst der Renaissance und des Barock. Eine Abteilung der Universität Wien bewahrt ihren Namen und ihr wissenschaftliches Erbe.

Ein Vater wurde zur Straße, eine Mutter zur Institution, und ihr Sohn zum Wort. Gemeinsam haben sie Wien und darüber hinaus geprägt – in Kunst, Sprache und Wissenschaft.

Vollendung des Werkes und Ehrung

Nach Tietzes Tod im Jahr 2003 setzten sich Sprachwissenschaftler dafür ein, das unvollendete TETTL in seiner Gesamtheit zugänglich zu machen. Die Türkische Akademie der Wissenschaften (TÜBA) übernahm die Rechte, und unter der Leitung von Emine Yılmaz und Nurettin Demir entstand bis 2012 die endgültige zehnbändige Fassung. Ihr Verdienst findet in Wien einen Ehrenplatz und in der Türkengemeinschaft tiefe Dankbarkeit.

Ein weiteres eindrucksvolles Zeugnis seiner Wirkung ist das im Jahr 2022 erschienene Werk Andreas Tietze und die österreichische Turkologie: Eine legendäre Bereicherung für die türkische Sprache, herausgegeben von Emine Yılmaz und Nurettin Demir. Diese Publikation ist weit mehr als eine wissenschaftliche Würdigung—sie ist eine lebendige Fortsetzung seines Lebenswerks, ein intellektuelles Denkmal, das bis in unsere Gegenwart hineinstrahlt. Es erfüllt uns mit besonderer Ehre, dieses Werk in Wien im Namen des Neuen Welt Verlags herausgeben zu dürfen.

Ein Denkmal als Zeichen der Dankbarkeit für Andreas Thietze

In Wien sollte ein Denkmal entstehen, still und tief getragen von Hand und Herz, um Andreas Tietze die Ehre zu erweisen, die seinem Lebenswerk gebührt. Und auch in der Türkei möge sein Bildnis als Mahnmal der Dankbarkeit stehen. Denn wahre Arbeit verdient wahre Erinnerung.  Vor diesem Andenken verneigen wir uns mit Liebe und Respekt. (Cumhuriyet,  von Birol Kilic, Wien, 07.09.2025)

You may also like

More in Ausgewählt